Die Kohlfahrt-Reportage
Erst Korn, dann Kohl von Katharina Hamel
Der Handballverein HSG Neuenburg/Bockhorn macht eine Kohlfahrt. Mit Schnaps und Besenwerfen bereiten sie sich auf das Grünkohlessen vor.
Das Bündel aus Reisigzweigen fliegt durch die Luft. Steil wirbelt es in die Höhe, dreht sich mehrmals um die eigene Achse, saust weiter. Die Fluglinie des Reisigbündels zeichnet einen imaginären Halbkreis über die verschneite Dorfstraße. Ein paar Meter entfernt nähert es sich dem Boden. Geräuschlos landet es im Schnee. Die Umstehenden jubeln: Kein schlechter Wurf. Marc grinst. Er zieht seine Winterstiefel aus dem tiefen Schnee, lässt die Wurfhand sinken und richtet sich auf. „Proooust!“, ruft er seinen Teamkollegen zu und hebt mit der linken Hand eine Flasche Jever-Pilsener.
Besenwerfen ist ein Spiel, das aus Ostriesland stammt. Die Mitspieler müssen einen Reisigbesen so weit wie möglich werfen. Sie treten in Mannschaften gegeneinander an. Der Besen wird dort weitergeworfen, wo er zuvor gelandet ist. Die Mannschaft, die ihr Reisigbündel zuerst über die Ziellinie wirft, hat gewonnen. Bei einer Kohlfahrt wird das Bündel traditionell während des gesamten Spaziergangs geworfen.
Handballerin Anni nutzt die kurze Pause, um sich einen ersten Schnaps zu genehmigen. Am Bollerwagen schenkt Trainer Peter eine zartgrüne Flüssigkeit aus. Berentzen Apfelkorn. Anni greift nach ihrem Schnapsglas. Sie hat es an einer Schnur aus rosafarbenem Geschenkband befestigt und trägt es wie eine Kette um den Hals. Peter schüttet den Kurzen randvoll. „Mit euch trink’ ich am liebsten“, grölt er und schwenkt sein Glas übermütig in alle Himmelsrichtungen. Anni legt ihren Kopf in den Nacken und kippt den Frucht-Korn in den Mund. Es ist 14.00 Uhr.
„Drei starke Männer an die Bollerwagen, zwei Leute an die Besen und weiter geht’s!“, ruft Anja, Organisatorin der Kohlfahrt. Vierzig Leute trotten los. Unter ihren Schuhsohlen knirscht der Schnee. Über ihren Köpfen tanzen Atemwolken. Die Bierflaschen in den drei Bollerwagen klirren ein helles Liedchen.
Die Kohlfahrt ist ein Brauch aus Nordwestdeutschland, um die Grünkohl-Saison zu feiern. Betriebe, Vereine oder Familien verabreden sich und machen einen langen Spaziergang übers Land. Dabei spielen sie Spiele und trinken in regelmäßigen Abständen Schnaps.
Es dämmert. In Grüppchen schlendert der Verein dem Gasthof entgegen. „Ist es noch weeeeit?“, lallt Marc und kichert. Anni und Kaddi stieren auf den Boden und schweigen. “Kennt ihr das nicht aus den Schlümpfen?“, fragt Marc weiter. „Hmmm“, nuschelt Anni. Die Antwort genügt Marc nicht. Er blickt in die Ferne und sieht drei Handballer-Damen. Seine Miene hellt sich auf. „Ist es noch weit, Papa Schlumpf?“, schreit er. „Nein, nicht mehr sehr weit“, schallt es zurück. Zufrieden guckt er die beiden Mädchen an und plappert munter weiter bis sie einige Minuten später die Gaststätte erreichen.
Der Bollerwagen ähnelt inzwischen einem Schlachtfeld. An leeren Bierkisten und Schnapsflaschen kleben durchgerissene Sixpack-Pappen und abgerissene Etiketten. Die Überbleibsel der Gruppenspiele – Spaghetti, Makkaroni, Gurken – vermischen sich mit benutzten Plastik-Schnapsgläsern und angesabberten Gummitierchen. Aus leeren Schnapsflaschen tropft Restalkohol. Überall Kronkorken.
Karina stürmt auf Marc zu und packt ihn am Arm: „Lass uns tanzen!“ Zusammen laufen sie zu Peter und fordern ein Party-Lied. Peter drückt konzentriert auf den Knöpfen seines Radios herum. „Da hat das große Pferd sich einmal umgekehrt…“, dröhnt es aus den Boxen in seiner Jackentasche. Marc und Karina legen einen Disco-Fox in den Schnee.
Im Lokal ist es warm. Das Grünkohlessen der Handballer findet in einem Nebenraum statt. Die Gemeinschaft ist laut. Schreie, Gelächter, Quietschen. Die Vereinsmitglieder setzen sich an vier Tischreihen. Ihre Nasen und Wangen sind gerötet – von der Kälte, vom Alkohol. Kaum kehrt ein wenig Ruhe ein, schlängeln sich die Bedienungen mit dampfenden Schüsseln durch das Gewusel. Sie verteilen Schüsseln voll saftigem Grünkohl und glänzenden Bratkartoffeln auf den Tischen. Es folgen die Fleisch-Platten. In fünf Lagen stapeln sich rosa Kassler, rote Kochwurst und bräunlicher Oldenburger Pinkel.
Die Augen der Gäste strahlen. „Boah, ich hab’ seit dem Frühstück nichts mehr gegessen“, sagt eine. „Ich auch nicht“, sagt ihre Tischnachbarin und tut sich beherzt auf. Zwei Schläge Grünkohl, ordentlich Bratkartoffeln, von jeder Fleischsorte ein Stück. Und ein bisschen Senf. Die Gespräche ebben ab, ersterben schließlich ganz. Nur noch Kauen und Schmatzen durchbricht die Stille. Zufriedene Gesichter.
Zurück bleiben leere Teller. Sie glänzen durch das Fett von Bratkartoffeln und Fleisch. Ein paar Grünkohlsprenkel liegen noch herum. Glasige Augen. Glühende Gesichter. Träge Körper hängen auf Stühlen.
Die Kellnerin kommt mit zwei Tabletts Schnapsgläsern herein. „Absacker für alle!“ sagt sie und strahlt. Die Gäste lächeln müde. Mit spitzen Fingern nimmt sich Marc einen Kurzen und hält ihn direkt unter das Licht der Tischlampe. Der Korn ist glasklar. „Brrr…“ Marc zieht eine Grimasse. Dann kneift er die Augen zusammen und trinkt den Korn in einem Zug. „Komm’, auf einem Bein kann man nicht stehen“, sagt sein Tischgegenüber und reicht ihm noch einen Korn.
Anja steht auf. „Wir brauchen noch einen neuen Kohlkönig und eine neue Kohlkönigin.“, ruft sie. „Schließlich muss jemand die Kohlfahrt fürs nächste Jahr organisieren.“ Die Unterhaltungen verstummen. Alle starren gebannt auf Anja. „Die Könige des letzten Jahres haben beratschlagt. Und die Wahl fällt auf…“ Nervöse Blicke. Zuckende Mundwinkel. Unruhige Hände. „Maren und Marc!“ Die Gruppe johlt. Die Kohlfahrt im nächsten Jahr ist gesichert.
Autorin und freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Katharina Hamel